Im Rückblick beurteilen wohl die meisten dieses Jahr anders. Die Corona-Zeit scheint weiter zu gehen. Die Politik bemüht sich, der Lage Herr zu werden. Seit Monaten zahllose Berichte und Kommentare über die Regeln. „Söders 10 Gebote“ durfte ich neulich lesen. Was sich die Schlagzeilenmacher dabei gedacht haben, weiß ich nicht. Fest steht: Gottes Zehn Gebote wollen einen Weg in die Freiheit zeigen, damit das Leben gelingt (Exodus 20,1-17). Die Sehnsucht nach Freiheit.
Der Prophet Jesaja (hebräisch: Der Herr rettet) greift das auf. Er spricht in beeindruckenden Bildern vom Beginn einer gnadenvollen Zeit.
„Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt. Denn wie die Erde die Saat wachsen lässt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor und Ruhm vor allen Völkern“(Jesaja 61, 1-2a.10-11).
Ein kleiner historischer Einschub: Das Prophetenbuch Jesaja ist eine Textsammlung aus den Jahren 740 bis 530 v. Chr. Ein einschneidendes Ereignis in der jüdischen Geschichte war das berüchtigte babylonische Exil der zweiten Welle ab 587 v. Chr., als die Großmacht Babylon unter Nebukadnezar II. große jüdische Bevölkerungsteile, vor allem aus der oberen Schicht, unter Zwang umsiedelte. Der Tempel in Jerusalem wurde zerstört. Jahre später: Eine Machtverschiebung im Orient zugunsten der Perser unter dem berühmten und von Israel bejubelten König Kyros beendete das Exil 539 v. Chr. Doch die neue Zeit war von Streit um den Wiederaufbau des Tempels und um den Opferkult geprägt. Der Verfasser des obigen Textes (in Fachkreisen: Trito-Jesaja bzw. dritter Jesaja) blickte auf diese Ereignisse zurück. Die Hoffnung auf Besserung, Sehnsucht und Ernüchterung prägten seine Texte. Den Wiederaufbau des Tempels und den Opferkult sah er kritisch. Wichtiger war ihm, im Alltag konkret das Gute zu tun. Seine Rede vom Gnadenjahr hat als Hintergrund das alttestamentliche Gesetz des Jobeljahres (Levitikus 25,10). Alle 50 Jahre sollten alle Israeliten, die aufgrund einer finanziellen Notlage ihr Grundstück verkaufen mussten oder zu Schuldsklaven geworden waren, ihr Land und ihre Freiheit zurückerhalten, um ihre Notlage zu beenden. Vermutlich wurde dieses Projekt niemals umgesetzt. Leider sind große Ideen oft zum Scheitern verurteilt. Was bleibt? Es waren bewegte und schwierige Zeiten – so wie heute!
In solchen Zeiten braucht es Boten der Mitmenschlichkeit. Wo Menschen Gutes tun, jeden Tag, an ihrem Ort, im Kleinen, ebnen sie einen Weg für den Herrn. So kann eine Zeit voller Probleme eine Zeit der Gnade sein. In diesem Blickwinkel erscheint die Gegenwart in einem anderen Licht. Bei uns im Haus hat ein junger Nachbar einen liebevollen Brief aufgehängt – er will sich um hilfebedürftige Senioren kümmern. Das ist gelebte Mitmenschlichkeit.
Johannes der Täufer gibt davon Zeugnis: „Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.“ (Johannes 1,23)
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Thomas Seibert