Ich mag unsere Wohnung. Sie ist für die Familie groß genug, sehr hell und bietet im achten Stock eine schöne Aussicht. Wir leben in einer Hausgemeinschaft. Es gibt bestimmte eigene Bereiche, das sogenannte Sondereigentum – also die Wohnung, und das, was alle gemeinsam haben: das Gemeinschaftseigentum. Der Aufzug und das Treppenhaus gehören allen, Fenster und Rollläden auch. Für die Instandhaltung der Fenster zahlt die Gemeinschaft, für die Rollläden jedoch der Einzelne. Wenn ein Rohr bricht, ist bei der Kostenfrage genau zu unterscheiden, ob es senkrecht verläuft als Steigleitung oder waagrecht von dieser abzweigt. Im ersten Fall gehört es der Gemeinschaft, im zweiten Fall ist es Sondereigentum. Speziell wird die Frage beim Unterputz-Druckminderer an der Rohrabzweigung, dem sogenannten Syromat, der den hohen Druck der Steigleitung für die waagrechten Rohre des Sondereigentums abmindert. Manche Juristen ordnen dieses Gerät der Hausgemeinschaft zu, andere dem Sondereigentum – entsprechend werden bei Reparaturen die Kosten verteilt. Auf die Frage, was denn nun genau ihr als Wohnungseigentümerin gehöre, bekam sie die Antwort: „Die Luft zwischen ihren Wänden.“ Denn diese gehören der Gemeinschaft. In so einer Konstellation ist der Streit vorprogrammiert, obwohl doch im Grunde alles in der Teilungserklärung geregelt ist, in der Hausverwalter fast ebenso ehrfurchtsvoll nachschlagen wie Theologen in der Bibel. Der Höhepunkt des Jahres für eine liebevolle Hausgemeinschaft ist immer die Eigentümerversammlung. Die dort geäußerten Schimpfworte darf ich hier nicht schreiben, weil wir eine christliche Website betreiben. Und dass es einmal fast ein Handgemenge gab, soll den Leser des nachfolgenden Bibeltextes nicht beunruhigen.
Der Evangelist Lukas berichtet in seiner Apostelgeschichte von einer idealen Gemeinschaft. Dabei geht es ebenfalls darum, Dinge gemeinsam zu haben.
„Die Menge derer, die gläubig geworden waren, war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Mit großer Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn, und reiche Gnade ruhte auf ihnen allen. Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte.“ (4, 32–35)
Wenn ich ehrlich bin: Ich kann das kaum glauben. Wo Menschen beisammen sind, gibt es Ärger. Und die frühe Kirche bildet da keine Ausnahme. So berichtet Lukas einige Kapitel später (Apg 15) vom großen Streit beim sogenannten Apostelkonzil. Da ging es um die Auslegung und den Geltungsbereich von jüdischen Reinheitsvorschriften. Es hat ordentlich gerauscht. Am Schluss wurde vereinbart: Die neuen Christen aus dem griechischen Umfeld müssen die alten jüdischen Reinheitsgebote nicht einhalten. Auch die vielen Paulusbriefe befassen sich sehr häufig mit Streitereien der christlichen Gemeinden.
Unser Text der Apostelgeschichte hat Weltgeschichte gemacht und galt als christliches Beispiel eines Urkommunismus. Wohin die Kommunisten mit ihren Idealen gekommen sind, ist bekannt. In China ist es etwas komplizierter.
Wir dürfen davon ausgehen, dass Lukas nicht darüber berichtet, wie es damals war, sondern wie es sein sollte oder könnte. Es geht ihm um ein Ideal, was sich vom lateinischen idea herleitet: Urbild, Idee. Der Evangelist malt gleichsam ein Bild einer idealen Gemeinschaft. Würden Christen so leben, wäre das eine Ahnung vom Reich Gottes. Es ist aber nicht so! Ein Grund zum Verzweifeln? Nein! Denn der Text gibt in einem kurzen Satz den entscheidenden Hinweis: „Reiche Gnade ruhte auf ihnen allen.“ Gott kennt seine „Hausgemeinschaft“, er weiß, wie es zugeht. Und deswegen beschenkt er alle mit seiner Gnade. Wenn es wieder einmal zur Sache geht, will ich mir vor Augen halten, dass meine Mitbewohner auch „Inhaber“ der göttlichen Gnade sind. Deswegen gebührt ihnen Achtung und Wertschätzung, auch wenn sie anderer Meinung sind.
Dieser eine Nachbar, der immer nervt – na ja, im Grunde ist er gar nicht so schlecht. – Wo beginnt das Reich Gottes?
Thomas Seibert
Bild: pixabay