Beim morgendlichen Verlassen der Wohnung rief ich noch kurz zu meiner Frau: „Du Schatz, wir brauchen ab Montag für uns alle FFP2-Masken.“ Für meinen Seelenfrieden wäre es vermutlich besser gewesen, diese Information am frühen Morgen nicht zu erwähnen. Ich hatte ja schon einige bestellt – jedoch mit längerer Lieferzeit. Missgelaunt kritisierte sie die viel zu kurzfristige Ankündigung der neuen Regel. Die Verkäufer in den Geschäften ebenso.
Regeln erzwingen ein genau definiertes Verhalten – das kollidiert schnell mit mancher Idee von Freiheit. Ich kann nicht das tun, was ich für sinnvoll halte und selbst entschieden habe. Die einen nehmen es eher gelassen, die anderen regen sich auf und gehen in den offenen Widerstand.
Das führt zu der Frage: Was ist Freiheit? Geht es um das Ausleben meiner Individualität? Wo beginnt die Willkür? Die Freiheit der einen grenzt immer an die der anderen. Freiheit hat mit Grenzen zu tun! Der Philosoph Jörg Splett spricht von „Konturen der Freiheit.“ Wenn ein Künstler auf ein freies Blatt einige Striche zeichnet, Grenzlinien, Konturen, entwickelt sich eine Gestalt. Will sagen: Es geht darum, Freiheit zu gestalten.
Der Evangelist Johannes schildert eine beeindruckende Szene. Die Schriftgelehrten brachten eine auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin zu Jesus: „Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? … Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort … Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (8, 1-11).
Jesus zwingt zum Nachsinnen und zeichnet buchstäblich ein neues Bild. Er gibt dem Geschehen eine andere Gestalt und eröffnet so eine ungeahnte Freiheit.
Dem Leben neue Gestalt geben! In unserer Familie hat Corona einiges zerlegt. Manchmal möchte ich resignieren. Doch dann überlegen wir zusammen, wie wir unser Leben anders gestalten können. Wir müssen die Linien der Freiheit neu zeichnen. Wir hoffen und beten, dass es uns gut gelingt.
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Thomas Seibert