Meine liebe Frau verreist nicht so gerne. Das lange Planen, Vorbereiten und Koffer packen erzeugt manchmal mehr Stress als Vorfreude. Noch heute denke ich an den mitleidigen Blick des Kassierers an der Brenner-Maut-Station. Ich hatte mich falsch eingeordnet – die Sache mit der Schranke und dem Geld klappte nicht. Er schaute auf das bis unters Dach beladene Auto mit den beiden erschöpften Kindern und sagte nur: „Lassen Sie´s, passt schon. Gute Fahrt.“ Es ist schön, wenn Menschen gnädig sind.
Das Verreisen kostet auch viel Geld – was in diesen Tagen für manche ein Thema ist. So haben wir uns als Familie auf eher näher gelegene Ziele eingestellt – das macht zudem weniger Mühe und schont die Schöpfung Gottes.
Trotzdem spüre ich in meinem Inneren eine gewisse Sehnsucht, in die Ferne zu reisen. Ein Text des biblischen Visionärs Johannes liest sich fast wie ein werbender Reisebericht:
„Ein Engel entrückte mich im Geist auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis. Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. Im Osten hat die Stadt drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes.
Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offenbarung des Johannes 21, 10–14.22–23)
Das ganze Leben ist wie eine Reise. Das große Ziel muss nicht weit weg sein. Das himmlische Jerusalem, ein Bild für das vollkommene Heil, hat im Herzen eines Menschen Platz.
Ein weiterer Gedanke: Es gibt keinen von Menschen gemachten Tempel mehr! Gott wohnt nicht mehr in den eigens für ihn errichteten Gebäuden. Denn Gott selbst ist der Tempel! So stellt sich die Frage: Wo wohnt Gott? Und: Was bedeutet das für unsere Seelsorge?
In diesem Jahr haben wir keinen Urlaub gebucht – wir schauen einfach, wohin unser Herz uns zieht. „Willst du immer weiterschweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da“ (Johann Wolfgang von Goethe).
Thomas Seibert
Bild: pixabay
Sabine Spandl meint
Lieber Herr Seibert,
gerade lese ich den Pfarrbrief von letzter Woche. Sie schreiben darin u.a. “Gott selbst ist der Tempel”.
Ich war immer der Auffassung, dass im neuen Bund der MENSCH der Tempel ist und Gott drin wohnen möchte?
Herzliche Grüße
Sabine Spandl
Thomas Seibert meint
Liebe Frau Spandl,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Der Apostel Paulus erweitert jene jüdische Theologie, die sich auf Tempel und Opferkult konzentriert hat. Gott ist nicht mehr auf den Tempel begrenzt: “Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in Euch wohnt…Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr” (1 Kor 3,16).
Die spätere apokalyptische Theologie der Offenbarung des Johannes (ca. 81-96 n.Chr.) steht unter dem starken Vorzeichen der Christenverfolgung durch die Römer. In diesem veränderten Umfeld hat er die Vision eines himmlischen Jerusalem – und im Himmel gelten völlig andere Maßstäbe. Gott selbst ist der Tempel. Symbolisch ist der Tempel der Wohnort Gottes – die ganze himmlische Stadt ist sein Wohnort – und wir Menschen dürfen mit ihm zusammen darin wohnen.
Tempel ist eine Chiffre, die bei Paulus einen anderen Akzent hat als bei Johannes.
Ich hoffe, mit dieser kurzen Rückmeldung etwas geholfen zu haben und stehe gerne für weitere Rückfragen und Gespräche bereit. Viele Grüße Thomas Seibert
Sabine Spandl meint
Danke, Herr Seibert, für die Erläuterung 🙂
Christine Kneidl meint
Lieber Herr Seibert, Sie haben, wie schon so oft, den Nagel auf den Kopf getroffen. Einen erfüllten Urlaub findet man nicht nur möglichst weit weg. Wichtig ist den Alltag zu durchbrechen. Gottes Schöpfung entdecken wir auch in den kleinsten Dingen.
Thomas Seibert meint
Liebe Frau Kneidl,
vielen Dank für Ihre Rückmeldung, die mich sehr gefreut hat. In der Tat: Weniger kann mehr sein. “Gott in allen Dingen finden”, wußte schon der heilige Ignatius von Loyola.
Liebe Grüße
Thomas Seibert