Vielleicht hatten Sie schon einmal das Vergnügen, sich mit einer am Boden schleifenden Tür zu beschäftigen. Vermutlich hatte sich ein kleines Steinchen verfangen, das auf den Fliesen ein hässliches Geräusch erzeugte. So geschah es in unserem neuen Badezimmer, zu dessen kostspieliger Sanierung ich von meiner Familie gedrängt wurde. Ich solle nicht geizig sein. Nun: Das Geld ist weg und er ist da und wird immer größer – dieser hässliche Kratzer, der in seinem Verlauf genau dem Schwenkbereich der Tür folgt. Zunächst habe ich die Tür ausgehängt, was leider weitere Kratzer nach sich zog. Dann wurde gemeinsam mit dem maulenden Sohn die Tür von unten abgeschliffen und wieder eingehängt. Das Geräusch war weg. Vorerst. Am nächsten Tag wieder das verhasste Geräusch und die gleiche Prozedur – diesmal ohne den maulenden Sohn. Im Laufe der Zeit war ich im Türaushängen, Schleifen und Wiedereinhängen geübt – jedoch nicht ohne Jammern und Zorn, der sich gegen die Tür und meine Familie richtete. Zugegeben: Mein Handeln war erstens nicht klug. Denn im Türrahmen findet sich eine sehr kleine Schraube, die es ermöglicht, die Türangeln zu verstellen. Zweitens ist es kein Zeichen von handwerklicher Tapferkeit, so viel zu jammern. Drittens widerspricht der Zorn dem Gebot der Mäßigung. Und viertens ist es nicht gerecht, die Schuld an der Misere der Familie zuzuschieben.
Übrigens: Die alten Römer bezeichneten eine Türangel mit dem lateinischen Wort cardo, was mit den sogenannten vier Kardinaltugenden zu tun hat. Diese gelten seit der Antike als die wichtigsten, sie sind gleichsam der Dreh- und Angelpunkt aller anderen Tugenden. Der griechische Philosoph Platon (428 – 348 v. Chr.) nannte die Klugheit, die Tapferkeit, die Fähigkeit der Mäßigung und die Gerechtigkeit. Der römische Schriftsteller und Politiker Cicero (106 – 43 v. Chr.) veränderte die Reihenfolge und setzte die Gerechtigkeit an die zweite Stelle. Über die Reihenfolge kann man selbst nachdenken. Den Begriff der Kardinaltugenden führte der Kirchenvater Ambrosius (339 – 397) ein. Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225 – 1274) hat sie im Mittelalter in seiner Tugendlehre mit den christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung verbunden.
Der Verfasser des Zweiten Briefes an Timotheus, Begleiter des Apostels Paulus, kannte sich mit der antiken Tradition aus und entfaltete wohl um 100 n. Chr. eine kleine Lehre christlicher Tugenden:
„Ich rufe dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist! Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schäme dich also nicht des Zeugnisses für unseren Herrn und auch nicht meiner, seines Gefangenen, sondern leide mit mir für das Evangelium!
Gott gibt dazu die Kraft: Als Vorbild gesunder Worte halte fest, was du von mir gehört hast in Glaube und Liebe in Christus Jesus! Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt!“ (2 Tim 1, 6–8.13–14)
Vermutlich ist mein Projekt mit der Badezimmertür menschlich daran gescheitert, dass ich im entscheidenden Augenblick alles Mögliche im Sinn hatte, aber keine von diesen Tugenden. In den Herausforderungen des Alltags, großen wie kleinen, kann es hilfreich sein, sich aus den oben genannten Tugenden selbst eine kleine persönliche Reihenfolge einzuprägen und danach zu handeln. Und: Der Glaube ist die Tür zum Leben.
Seit kurzem ist das Schleifgeräusch wieder da.
Thomas Seibert, Diplomtheologe
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