Es geht nicht einfach nur um etwas zum Essen. Zu besonderen Zeiten, an Sonntagen oder im Urlaub, haben vor allem frische Semmeln und anderes Gebäck bei vielen einen hohen Stellenwert. Ich denke mit Schmunzeln an die wirklich sehr langen Warteschlangen einer beliebten weil einzigen Bäckerei in einem kleinen Dorf an der Ostsee. Männer in Badeschlappen, genervte Mütter und quengelnde Kinder üben sich mehr oder minder erfolgreich in Geduld. Ist die Theke erreicht, zelebrieren sie oft ohne Zeitgefühl ihre individuellen Wünsche. Bravo. Zurück in heimatliche Gefilde: Ich freue mich schon über die schmackhaften vielfältigen Brotsorten. Teurer sind sie geworden. Aber sie haben ihren Wert!
Mit meinem behinderten Sohn Daniel steuere ich regelmäßig eine bestimmte Bäckerei in unserer Nachbarschaft an. Die Verkäuferinnen kennen uns schon seit langer Zeit. Wir bestellen immer das Gleiche: einen Latte Macchiato für den Papa, eine nicht gekühlte Apfelsaftschorle im Becher und eine Breze mit wenig Salz für den lieben Sohn. Als eine neue Mitarbeiterin uns bediente, gab ihre Kollegin eine genaue Anweisung unserer Wünsche, noch ehe ich selbst etwas sagen konnte. Wir haben einen Stammplatz in der Mitte – nahe der belebten Theke. Daniel genießt das quirlige Treiben um uns herum. An den Nachbartischen gibt es lebendige Gespräche. Heitere und traurige. Wir passen dazu. Die Verkäuferinnen kennen ihre Kunden und ihre Geschichten. Und sie fragen nach: Wie geht es Deiner kranken Frau? oder Hast Du eine Arbeit gefunden?
Ich erzähle das, weil eine Bäckerei nicht nur einfach eine Bäckerei ist. In der Mitte ist das Brot. Um das Brot und das andere Gebäck versammeln sich Menschen. Sie sprechen miteinander oder schweigen einfach – ohne allein zu sein. Sie bilden eine offene und doch verbundene Gemeinschaft. Brot ist mehr als nur einfach etwas zum Essen: Es geht um das Leben und seine Geschichten – die glücklichen und die traurigen. Wir fühlen uns hier sehr wohl. Ich bin dankbar für diesen Ort.
Dazu passt ein Gedicht von Andreas Knapp, Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte, Würzburg 2004
mitten in der Welt / unser Stadtviertel / ist unser Kloster / und die belebten Straßenkreuzungen /
sind unser Kreuzgang / unsere Klosterwerkstätten sind die Fabriken / und unsere Gebetszeiten /
werden von der Stechuhr diktiert / unsere Fürbitten / stehen in der Zeitung /
die Probleme unserer Nachbarn / hören wir als Tischlesung / und ihre Lebensgeschichten /
sind unsere Bibliothek / die Gesichter der Menschen / sind die Ikonen die wir verehren /
und im leidgezeichneten Antlitz / schauen wir auf den Gekreuzigten
Wo ist Gott?
Thomas Seibert
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