Vor einigen Monaten hat Jan Loffeld, Professor für Praktische Theologie in Utrecht, ein sehr bedeutendes Buch vorgelegt, das nüchtern die gegenwärtige Lage des europäischen Christentums untersucht und Perspektiven für die Zukunft aufzeigt. Die entscheidenden Sätze dieses lesenswerten Werkes mit dem markanten Titel “Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt – Das Christentum vor der religiösen Indifferenz” habe ich zusammengestellt. Viel Freude bei der Lektüre.
Die Anzahl der Menschen, die mit Religiosität nichts mehr anfangen können, wächst stark.
- Nur noch 13% der Deutschen sind kirchlich-religiös.
- 20 – 25% stellen sich Gott als Person vor.
- 8% (international) sind „Suchende“.
Quelle: 6. Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD (KMU VI), Leipzig 2023
Eine Studentin sagt: „Leute setzen sich am Sonntag lieber auf eine Terrasse mit einem Glas Wein, als in eine Kirche zu gehen. Dabei ist es egal, in welche.“
Das Christentum hat zweifelsohne eine Zukunft, vermutlich allerdings eine völlig andere, als wir sie uns derzeit vorstellen oder planen können.
Optimierungsparadigma – eine typisch deutsche Herangehensweise, um das Problem schwindender Religiosität zu lösen:
- Optimierung der Kirchenorganisation / der Institution
- Reform der Struktur
- Verbesserung der Angebote
- Konzeptgläubigkeit
- unbeholfene Übernahme von ethisch oft fragwürdigen Managementstrategien (kirchliche Verwaltungen mit neoliberalen Grundsätzen)
- Neu-Evangelisierung
Ein Irrglaube: Religion wandere aus der Organisation aus und privatisiere sich. Der Mensch sei im Grunde religiös, spirituell oder auf der Suche nach Sinn oder Erlösung. Es müssen folglich neue Zugänge gefunden werden, um ein religiöses Bedürfnis zu befriedigen – das es leider oft nicht gibt! Viele Menschen suchen nichts. „Mein Leben hat absolut keinen Sinn, aber ich habe total Lust darauf.“ Ein Leben in Fülle geht auch ohne Gott.
Die großen Fragen (Immanuel Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?) werden immer weniger gestellt.
Immer mehr Menschen empfinden ihr Leben als sinnvoll, erfüllt, glücklich, sozial – ohne jede Form von Religion. Es fehlt jedes religiöse Bedürfnis (Gleichgültigkeit, Apatheismus).
Eine Auszeit, eine Berg-Wanderung, ein schönes Essen, ein gutes Gespräch etc. werden als „kleines oder mittleres spirituelles Erlebnis“ wahrgenommen. Es gibt keine weiteren religiösen Bedürfnisse.
Die Kirchen werden noch „gebraucht“ bei den klassischen Passage-Riten (Taufe, Eheschließung, Beerdigung). Es folgt deswegen keinerlei religiöse oder kirchliche Bindung.
Religiöse Gleichgültigkeit schlägt oft um Religionsfeindlichkeit. Religion als Bedrohung und Freiheitsbeschränkung.
Die vielfältigen kirchlichen Kontakte erreichen immer noch 70% der Bundesbürger (KMU VI, s.o).
Pastorale Qualität führt nicht zu mehr Religiosität.
Die kirchliche Pastoral setzt religiöse Bedürfnisse voraus, die es großenteils nicht mehr gibt.
Eine Fehleinschätzung der Pastoral (der Babyboomer-Epoche): Gut ist, wenn es viele anzieht. Wenn wir gut sind, werden wir viele.
In der kirchlichen Führungsstruktur gibt es „problematische“ Netzwerke (Vertuschung).
Die „neue Mittelklasse“ pflegt oft einen kulturellen Kosmopolitismus (Global Player – man fühlt sich als Weltbürger überall zuhause).
Die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts sah als Antwort auf die Fragen (Anfechtungen) der Moderne das Modell der „societas perfecta“ (Kirche als perfekte Gesellschaft, Erstes Vatikanisches Konzil, 1869/1870).
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) entwickelte die sogenannte „Communio-Theologie“, in deren Folge eine Gemeinde-Theologie mit Elementen von Partizipation (Teilnahme, Mitbestimmung) und Gemeinschaft entstand. Das Modell ist gescheitert.
Die Säkularisierung (Verweltlichung) hat sich stärker erwiesen als das konziliare „Aggiornamento“ (Erneuerung).
Eine Optimierung der Kirche ist notwendig, aber nicht hinreichend.
- Optimierung als Wiederherstellung der traditionellen Ordnung (Restauration)
- oder als Kirchenreform
- Beide Versuche verkeilen sich gegenseitig und verkennen das bezeichnete Grundproblem.
Es kommt nicht zum Verschwinden der Religion. Sie bleibt, jedoch in völlig anderer Gestalt.
Die kirchliche Lehre basiert auf universalen Geltungsansprüchen („Gott ist das Heil aller Menschen“; „Christus hat die ganze Schöpfung erlöst“; „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes“, Röm 8,18f; etc.), die auf persönlicher Ebene ihre Gültigkeit großenteils eingebüßt haben.
Gott zwingt nicht, an ihn zu glauben. Er lässt dem Menschen die Möglichkeit, auch ohne Gott glücklich zu sein. Das Leben mit Gott ist eine frei wählbare Option (Möglichkeit).
Gott ist das Alleinstellungsmerkmal des Christentums.
Die frühe Kirche hatte nicht die Idee, das ganze Römische Reich zu missionieren, sondern an möglichst vielen Orten präsent zu sein. Es ging um die Präsenz des Evangeliums an vielen Orten, damit alle glauben können, wenn sie es wollten.
Perspektiven
Der Mensch kann sich nicht von Schuld und Tod selbst befreien. Es gibt Grenzen einer innerweltlichen Sinngebung.
Die Kirche verfügt zwar über Erfahrung, die mit Aufhören zu tun hat: Fasten, Sterbebegleitung. Sie hat jedoch keine Technik entwickelt, um sinnvoll mit eigenen Fehlentwicklungen aufzuhören.
Eine Spiritualität des Karsamstags, dem Tag der Leere: Der Gekreuzigte fährt hinab zu den Urvätern und verbindet so das Vorherige und Künftige in seiner Person. An der Oberfläche bleibt die Leere. Im Untergrund wirkt Gott.
Es gibt einen Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht.
Gott fällt nicht unter die Kategorie des Bedürfnisses, sondern des Verlangens und der Liebe: des Nicht-Geschuldeten (Edward Schillebeecks).
Vorsicht bei einem falsch verstandenen Netzwerkdenken, das zur Bildung einer pastoralen Blase führt.
„Die ganze Gemeinde“ ist eine Fiktion.
Themen der Gegenwart: Umwelt, Lebensgestaltung, Schuld, Einsamkeit („Zeichen der Zeit“, Vatikanum II)
Außenwirkungen der Kirche: das Ästhetische, das Rituelle, das Caritative, die Bildung. Vorsicht: Das Caritative nicht kirchlich verzwecken!
Zentral für eine säkulare Kultur sind kleine, kurze und persönliche Geschichten bzw. Erzählungen, die auf etwas Größeres ausgerichtet sind!!
Ein Kirchenbild eines „runtergekommenen Gottes“ (vgl. Philipperhymnus, 2,5-11) statt Triumphalismus. Die heruntergekommene Kirche kennt ihren Platz in aller Demut und bringt die eigene Position in die Vielfalt gesellschaftlicher Diskussionen ein.
Das Kirchenbild soll das Kirchenrecht prägen, nicht umgekehrt!
Christlichkeit statt Kirchlichkeit.
Dienst der Versöhnung – einen neuen Anfang schaffen, wo es innerweltlich am Ende ist.
Das Christentum hat prophetisches Potential: Die Stimme gegen die Mehrheit erheben.
Vorsicht: Die Idee der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ stammt aus einem anderen Kulturkreis und lässt sich nicht einfach auf uns übertragen – „Schnittblumenpastoral“, Christian Hennecke.
Vorsicht vor dem versteckten Optimierungsdenken: “Kirche irgendwie anders machen…, weil: anders ist besser.“
Vertrauen, dass Gott eine Zukunft schenkt, die wir mitgestalten, aber nicht allein selbst machen werden oder müssen.
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