Ich war von dem großen und kunstvoll aufgetürmten Stapel aus Akten beeindruckt. Es brauchte vermutlich viel Geschick, um so viele Papiere auf einem kleinen Nachtkästchen eines Krankenhauszimmers aufzubauen. Dieser Stapel war ein ungutes Symbol für das Lebenswerk jener älteren Patientin, die ihrem Ende entgegenblickte. „Da schauen sie – das ist das Ergebnis unserer Mühe.“ Ich zögerte, etwas zu sagen. „Mein Leben lang haben wir hart gearbeitet und nur gespart. Davon haben wir sieben Häuser gebaut, die wir unseren beiden Kindern vererbt haben. Eines bekam drei Häuser, das andere vier…“ Hier brach ihre Stimme ab und sie begann zu weinen. Ich ahnte es schon und fragte, ob sich die beiden Kinder untereinander noch gut verstehen. „Nein! – Was sie hier neben mir sehen, sind die Akten der gegnerischen Anwälte. Der Sohn bekam nur drei Häuser und fühlt sich gegenüber seiner Schwester benachteiligt und klagt vor Gericht…“
Diese traurige Geschichte wirkt wie das totale Gegenteil von dem, was uns der Evangelist Johannes erzählt:
„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet. Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt“ (Joh 15, 9–17).
Das göttliche Gebot der vollkommenen und grenzenlosen Liebe ist das eine – unsere unheilvolle und oft lieblose Welt das andere. Nüchtern denkende Menschen würden sagen: „Ihr Christen habt ja schöne Ideale, aber die tägliche Wirklichkeit hat leider damit nicht viel zu tun.“
Aufschlussreich war der nachfolgende Satz der oben erwähnten Patientin: „Wir haben als Eltern Fehler gemacht. Unsere Kinder haben eines nicht verstanden: Wir nehmen am Ende nichts mit. Alle Dinge und aller Besitz bleiben hier auf Erden zurück.“
Und so komme ich zu der Frage: „Was bleibt?“ – Das in Liebe Geschehene geht mit ein in das Reich Gottes: Ein kleines Lächeln, das den Moment verzaubert. Die tröstenden Worte für einen Mitmenschen. Die gute Tat – sie muss nicht heldenhaft sein… Wir wissen selbst, was unsere Welt besser macht und können uns jeden Tag neu dafür entscheiden. Das ist die wertvolle Mitarbeit am Reich Gottes, das täglich mitten unter uns Gestalt gewinnt. Es wächst wie eine Frucht, die niemals an Geschmack verliert.
Thomas Seibert
Bild: pixabay
Marco Meier meint
Eigentlich ist es so klar und eigentlich weiß ich es doch auch schon lang. Aber es ist gut, wenn ich es mir immer wieder vor Augen führe und wenn andere Impulse geben, die mir helfen, mich daran zu erinnern, denn die “Dornen” des Alltags verstellen mir immer wieder den Blick auf das Wesentliche.
Danke, Thomas.
Thomas Seibert meint
Lieber Marco,
vielen Dank für Deine Rückmeldung. Die Botschaft Gottes ist im Grunde eine sehr einfache. Jedoch ist das tägliche Umsetzen nicht Immer so einfach – das merke ich persönlich jeden Tag. Eine stetige positive innere Haltung, eine tiefe Zufriedenheit im Herzen wäre der Schlüssel für ein gelingendes Leben. Aber: Ich spüre täglich so viele andere und störende Gefühle, die ein einfaches, friedliches und christliches Leben bremsen. Ich arbeite daran, im Herzen mehr Frieden zu finden – immer wieder neu. Manchmal gelingt es mehr, manchmal weniger.
Viele Grüße
Thomas Seibert