ist ein vielschichtiges Thema. Schon kleine Kinder überlegen, ob sie etwas offen zugeben sollen oder eher nicht. Der heilige Thomas von Aquin (1225 – 1274), einer der bedeutendsten Kirchenlehrer, betonte zwar das klare Verbot der Lüge – was dem achten Gebot entspricht. Er fügte jedoch hinzu, dass man in bestimmten Fällen nicht jedem die ganze Wahrheit sagen müsse (vgl. Summa Theologica II-II 80; 109,3; 114,2). Es gibt also das gute Recht, manches für sich zu behalten, wenn man damit einen Schaden vermeiden kann.
Dass nicht alle alles wissen müssen, hat seit einigen Jahren unter dem großen Wort „Datenschutz“ höchsten Stellenwert erhalten. Als in einer Arztpraxis vor einiger Zeit die Sprechstundenhilfe eine Patientin mit Namen aufrief, zeigte sich diese sehr irritiert und verwies auf den Datenschutz. Man könne ja allen Patienten eine Nummer geben, die dann aufgerufen wird – “wegen Datenschutz”.
Auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf, mit 390 Hektar der größte Parkfriedhof Europas, tragen die Kapellen keinen Namen eines Heiligen, sondern nur eine Nummer – das ist übersichtlicher und verletzt keine Kultur. So findet eine Beisetzung in den Kapellen 1 bis 13 statt. Sollten die Angehörigen aus Gründen des Datenschutzes auch die Namensnennung einer verstorbenen Person verhindern, erfolgt die Beisetzung von „Anonym“ zum Beispiel in Kapelle 13 und im Grab mit der Nummer 456. Übrigens haben inzwischen anonyme Bestattungen großen Zulauf. Ich persönlich finde das eher traurig. Als gläubiger Mensch ist es mir wichtig, einen Namen bei Gott zu haben, mit dem ich gerufen werden kann.
Die Frage nach der Offenheit lässt sich hier nicht abschließend behandeln. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass viele Menschen schwere Dinge für sich behalten. Sie verschließen sich innerlich und tragen eine Last mit sich herum, ohne mit anderen darüber in offenen Austausch zu treten. Als ehemaliger und langjähriger Klinikseelsorger weiß ich, wie befreiend ein Gespräch sein kann. Denn jedes Erzählen eines schwierigen Erlebnisses ist zugleich ein Neu-Ordnen und Neu-Bewerten. Bei jedem Erzählen kann sich ein Akzent verschieben. Im günstigen Fall wird das Belastende nach und nach als ein sinnvoller Teil des eigenen Lebens anerkannt – die Experten reden dann davon, etwas in die eigene Biografie zu integrieren.
Daraus folgt: Es ist für die seelische Gesundheit wichtig, das eigene Leid anderen Menschen anzuvertrauen. Das schließt mit ein, im Gegenzug anderen zuzuhören. Dabei kommt es nicht zuerst darauf an, mit klugen Ratschlägen einzugreifen, sondern einfach die andere Person sprechen zu lassen. Die dabei freiwerdenden Kräfte der Seele bewirken einen Prozess der Heilung. Wenn wir von Kräften der Seele sprechen, dürfen wir Gottes Geist ins Spiel bringen.
Der Evangelist Johannes berichtet in dieser Hinsicht eine interessante Begebenheit: „Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten“ (Johannes 20,19-23).
Die Jünger haben sich aus Furcht eingeschlossen – im Haus und im Herzen. Vielleicht haben sie, als sie beisammen waren, sich nach und nach gegenseitig von ihren Gefühlen erzählt und einander zugehört. Wenn Menschen es wagen, sich vertrauensvoll mit dem eigenen Leid zu öffnen, tritt Gott selbst hinzu. Und er zeigt seine Hände und seine Seite, sprich: seine Wunden. Er kennt das Leid aus eigener Erfahrung. Seine Gegenwart bewirkt Frieden im Herzen – Vergebung – ganz offen.
Thomas Seibert
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