Sie war schon fast 90 Jahre alt und erzählte mir von ihrer fleißigen Familie und dem großen Hof, den ihre Kinder erfolgreich bewirtschafteten. Ich kannte die Gebäude und wusste von einer schön gelegenen Sitzbank vor dem Haus. Ein großer Baum spendete Schatten – und die Aussicht auf das Tal war wunderbar. „Sie haben Glück“, meinte ich, „so eine Familie zu haben. Sicherlich können sie oft auf dieser Bank sitzen, schauen und ruhen.“ – „Nein, nein“, antwortete sie fast empört: „Das geht nicht! Immer wenn ich da sitze, kommen meine Kinder und Enkel und sagen: ´Oma, warum sitzt du hier einfach? Hast du denn nichts zu tun? Wir haben so viel Arbeit.´“
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Natürlich hat das Sprichwort seine Berechtigung: „Wer rastet, der rostet.“ Menschen benötigen sinnvolle Aufgaben und Beschäftigung. Es stimmt aber auch, dass unsere Gesellschaft die Schnelligkeit, die Arbeitsverdichtung und das Zeit sparen schon sehr weit getrieben hat.
Nun beginnen bald die Ferien. Eine gute Gelegenheit, Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen. Die einen planen diese Zeit voll durch, um möglichst viel zu erleben. Geist und Seele brauchen neue Eindrücke und Bilder, um gesund zu bleiben. Die Frage nach der passenden Balance von Aktion und Ruhe führt vor allem bei der familiären Urlaubsplanung nicht selten zu Konflikten in der Partnerschaft und mit den Kindern. Nur untätig am Strand liegen oder Kulturtrip. Was ist besser? Wer weiß?
Manchmal haben meine Frau und ich die Idee, einfach mit einem kleinen Rucksack durch einen Wald und über Wiesen zu wandern – ganz abgelegen und auf keiner berühmten Route, wo viele andere auch sind. Lakonisch bemerkte ein Freund nach seinem Urlaub an einem sehr beliebten Ort: „Die Allgegenwart der Krone der Schöpfung (= Mensch) ist unerträglich.“
Auch Jesus war oft unterwegs und suchte immer wieder Orte der Ruhe. Der moderne Mensch würde dazu sagen: „Ja genau, um zu sich selbst zu kommen.“ – Ich würde hinzufügen: „Um zu Gott zu kommen.“ Der Evangelist Lukas berichtet:
„In jener Zeit kam Jesus in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden“ (Lukas 10, 38–42).
Der Text hat eine lange kirchliche Wirkungsgeschichte und wurde oft so verstanden, dass Jesus die Mühe der Marta ablehnt und nicht würdigt. Das hat besonders bei vielen Frauen, die zu umfangreicher Hausarbeit verpflichtet waren, zu Unverständnis geführt.
Dazu in Kürze: Maria erkennt die Kostbarkeit des Augenblicks. Die wertvolle tägliche Mühe soll nicht dazu führen, die heilsamen Zeiten der Ruhe und der Gegenwart Gottes zu verpassen! Zudem: Jesus wertet das Mühen der Marta nicht ab. Er sagt nämlich nicht: „Maria hat den besseren Teil gewählt“ oder „Marta hat den schlechten Teil gewählt.“ Jesus will Marta von dem Übermaß an Sorgen und Mühen befreien. Wir dürfen nämlich auf Gott vertrauen, dass er unser aufrichtiges Schaffen zur Vollendung führt. Jesus geht es um den guten Teil, um das eine Notwendige: Das vollkommene Vertrauen auf Gott und die daraus hervorgehende Gelassenheit, die aber nicht mit Nachlässigkeit zu verwechseln ist. Der heilige Benedikt sagte: „Ora et labora!“ – „Bete und arbeite!“ Achtung: Das Gebet kommt zuerst. Heute spricht man auch von der Life-Work-Balance: Das Gleichgewicht von Leben und Arbeiten.
Es ist von Gott gewollt, dass wir regelmäßig zur Ruhe kommen! Der Sonntag als heilige Zeit der Ruhe ist ein Geschenk. Das Wort „Ferien“ stammt vom lateinischen „Feriae“ und bedeutet: „Ruhetage“ oder „Feiertage“, es geht um geschenkte Zeit. Das deutsche Wort „Urlaub“ stammt hingegen von „erlauben“. Man muss sich den Urlaub also auch finanziell erlauben bzw. verdienen können – was leider derzeit vielen schwerfällt.
Wie komme ich nun zur Ruhe? Vielleicht mit einem kleinen Rucksack und einer Rast an einem Wegkreuz.
Und übrigens: Die alte Dame hat mir später berichtet, dass sie sich trotz der Kommentare der Lieben einfach auf diese Bank gesetzt hat, um nichts zu tun.
Thomas Seibert
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