Auf dem Schulhof sehe ich regelmäßig, wie schnell ein Streit eskalieren kann. In der Regel kommt eine Lehrkraft oder ein Streitschlichter, um die Lage zu entspannen. Auf unserem Kontinent tobt nicht nur ein Streit, sondern brutaler Krieg – und es gibt keine übergeordnete Macht, die eine Schlichtung herbeiführen kann. Seit Monaten kreisen die öffentlichen Debatten um den richtigen Weg in diesem Dilemma. Auf der einen Seite die große Angst vor einer unberechenbaren Ausweitung, auf der anderen die klare Forderung der Solidarität mit einer Nation, die um ihr Überleben kämpft. Es gibt das Recht auf Notwehr.
In diesem Kontext sind Jesu Worte aus der Bergpredigt nur schwer zu verstehen:
„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel! Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm! Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab! Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Matthäus 5, 38–48)
Die Debatte um das richtige Verständnis dieses sperrigen Textes ist nicht neu. Die Kirche hat die Lehre vom „gerechten Krieg“ entwickelt und dafür Bedingungen formuliert. Es geht um Notwehr, die Abwendung von noch mehr Gewalt, die Schonung der Zivilbevölkerung und eine möglichst menschenwürdige Behandlung von Soldaten und Gefangenen. Soweit die Theorie – die Praxis folgt oft anderen Gesetzen. Es bleibt ein Dilemma – also eine Situation, die keinen guten Ausweg kennt.
Mir wird bewusst, dass unsere Welt eine gebrochene ist! Die Bergpredigt wirkt herausfordernd, sie zeichnet das Bild einer anderen, vom Heil erfüllten Welt. Die einen sagen: Diese Worte Jesu können nicht als konkrete politische Handlungsanweisung verstanden werden, sondern nur im Sinne einer „Gesinnungsethik“, die auf das persönliche Verhalten des einzelnen Menschen ziele. Andere sagen, die Bergpredigt hätte sehr wohl eine politische Dimension.
Was gilt? Ich glaube an die Kraft des Gebetes! „Betet für die, die euch verfolgen…“ Ich hoffe, dass Gottes Geist die Menschen erfüllt, um dieses Elend zu beenden. Es fällt schwer, für Menschen zu beten, die Böses tun. Trotzdem! Damit verbunden ist die Sehnsucht, dass die Kraft des Gebetes auch politisch wirkt.
Thomas Seibert
Marco Meier meint
Ich kann für mich entscheiden, ob ich einem, der mich schlägt, auch die andere Wange hinhalte. Aber kann ich für einen anderen, der geschlagen wird, entscheiden, dass er / sie dem Schläger auch die andere Wange hinhalten muss? – Diese Frage ist nicht rhetorisch gemeint. Ich weiß tatsächlich keine klare Antwort darauf.
Thomas Seibert meint
Lieber Marco,
vielen Dank für Deine Frage. Leider kann ich erst jetzt antworten, weil ich drei Wochen krank war. Ganz klar ist: Es gibt ein Recht auf Notwehr. Und so kann man schwer sagen, dass sich ein anderer oder gar ein Volk der Gewalt beugen muss. Eine traurige Erfahrung ist natürlich, dass alle Kriege ab einem gewissen Zeitpunkt einer eigenen grausamen Logik folgen, meist eskalieren und fast immer unschuldige Menschen getötet werden. Die alte kirchliche Lehre vom gerechten Krieg setzt gewisse Maßstäbe, um ein Mindestmaß an Humanität zu erreichen. Aber schon vor Jahrzehnten gab es im Blick auf moderne Massenvernichtungswaffen viele offene Fragen.
Der Papst hat sich zur “Vorgeschichte” des Ukraine-Krieges kritisch geäußert – was ihm seinerseits Kritik einbrachte. Er komme eben aus einem “USA-kritischen” Umfeld, hieß es. Die deutschen Bischöfe beziehen eine sehr klare Position im Sinne der Notwehr und des Rechts auf Selbstverteidigung. Dem schließe ich mich an. Ich möchte aber auch eine Ukrainerin und Mutter zitieren, die sagte: “Die Liebe zum Leben muss größer sein, als die Liebe zum Vaterland.” Ein bedeutender Satz – darüber können aber nur die Ukrainer entscheiden.
Schwierig wird es jedoch, wenn der Aggressor Putin eskaliert, indem er z.B. taktische, begrenzt wirkende Atomwaffen einsetzt oder biochemische Waffen.
Derzeit sprechen sehr viele von einem über Jahre andauernden Krieg, der in einer erheblichen Zerstörung der Ukraine enden könnte. Vergleiche mit dem Niederschlagen der Nazi-Diktatur bestärken die klare Haltung, Waffen gegen Aggressoren einzusetzen. Der Unterschied könnte aber darin bestehen, dass Deutschland 1945 besiegbar war – Russland derzeit vermutlich nicht.
Kurzum: Es bleiben sehr viele Fragen und es ist ein Dilemma, das sich schon jetzt nicht mehr “gut” beenden lässt. Die Bergpredigt ist ein Stachel.
Thomas Seibert
Daniel meint
Hallo Herr Seibert,
es immer wieder erhellend Ihre Texte zu lesen. Vielen Dank dafür!
Thomas Seibert meint
Hallo Herr Strasser,
vielen Dank für Ihre Rückmeldung, die mich sehr erfreut.
Viele Grüße
Thomas Seibert